Ohne Döner im Fotomuseum Winterthur

Die Ausstellung «Orlando» stillt den Kulturhunger genüsslich und nachhaltig.

Normalerweise bin ich mit Baby unterwegs. Mit Baby ins Museum zu gehen, ist wie Döner holen: Manchmal muss es schnell gehen, um den Hunger zu stillen. In letzter Zeit hatte ich ziemlich viel Döner, darum gönne ich mir ein 6-Gang-Menü im Fotomuseum Winterthur ohne das Baby.

 

Zwei Kategorien

«Bueb oder Meitli?», werde ich gefragt, wenn ich mit Baby unterwegs bin. Die Frage nach dem Geschlecht scheint so dringend, dass für die zwei Kategorien sogar die Zeit für die Ausformulierung eines vollständigen Satzes fehlt. Noch bis Ende Mai zeigt das Fotomuseum Winterthur mit der Ausstellung «Orlando» und den wunderbaren Fotografien von elf Kunstschaffenden, dass die Welt der Geschlechter in ihrer Fluidität eine vielseitige, intime, farbige und berührende ist. Und ein System von zwei Kategorien definitiv sprengt. Genau das Richtige für mich als weisse hetero Cis-Frau, die rund um LGBTQIA+ ständig dazulernt: Ich lese, höre, imitiere, mache Fehler – und alles wieder von vorne …

Der Ausstellungstitel geht auf die Romanfigur Orlando des gleichnamigen Buches von Virgina Woolf aus dem Jahr 1928 zurück: Ohne zu altern, ist Orlando imstande, zwischen den Jahrhunderten und den Geschlechtern zu wechseln. Radikal unbestimmt und grenzenlos zeigt die Figur den gesellschaftlichen Umgang mit Geschlechtern auf. 1992 verfilmte Sally Potter den Stoff mit Tilda Swinton in der Rolle von Orlando. Und Swinton ist es, die ebendiese Ausstellung nun kuratiert hat. Eine Wucht.

 

11 Auslegungen von Spielraum

Ein umfangreiches Glossar mit zentralen Begriffen eröffnet die Ausstellung: BIPoC, Geschlecht, Femme/Butch, Nicht-binär, Transition … Lange lese ich und wünsche mir, dass meine Eltern das auch lesen. Und auch der Kirchenmusiker in der katholischen Kirche Hinterpfupfigen. Daneben blickt Tilda Swinton in männlichen, weiblichen und androgynen Versionen von den Wänden herab (siehe Titelbild und Bild unten). Holt mich ab. Und kündet von den Spielräumen rund um Geschlecht, die die kommenden Räume zeigen.

Ich treffe auf eine Fotografie, die Rosalyne Blumenstein darstellt, Vorreiterin und wichtige Aktivistin der Trans Community. Die Urheberin Zackary Drucker (*1983) stellt die nackte, ikonisch weibliche Blumenstein neben Botticellis Venus und schafft somit schnell Bezug zur Geschlechter- und Schönheitsthematik. Ich lasse mich berühren von den Bildern der Modefotografin Collier Schorr (*1963), die das Model Casil McArthur mehrere Jahre im Prozess der Transition begleitete. Die Fotografien sind intim, zeitlos und einnehmend. In ihrer Ästhetik und Kraft treffen mich die Werke von Fotografin und Malerin Mickalene Thomas (*1971) (siehe erstes Bild unten). Sie knallen mit ihrer Farbigkeit und der barock anmutenden Drappierung der wunderschönen Ikonen voll rein.

«Orlando» ist anmutig, sexy, aufregend und eine für das Selbstverständnis der Schweizer:innen wichtige Ausstellung. Bevor ich gehe, suche ich die Toiletten auf und habe die Wahl zwischen zwei Kategorien von Geschlecht. Person mit Kleid und Person mit Hosen. Ich trage heute Hosen. Und kann den Mutterblick nicht lassen: Wickeltisch vorhanden und Kinderwagen erlaubt.

 

Drei weiterreichende Tipps zur Thematik: 

  • Insta-Account von Anna Rosenwasser folgen
  • Buch «Mädchen, Junge, Kind» von Daniela Thörner
  • Serie «Pose» auf Netflix

 

Titelbild: Vorproduktionsbild von Regisseurin Sally Potter, um die Finanzierung des Films Orlando zu sichern, 1988 © Sally Potter

Jamal Nxedlana, FAKA Portrait, Johannesburg, 2019 © Jamal Nxedlana

Fotomuseum Winterthur

Orlando – Nach einem Roman von Virginia Woolf

Eine Ausstellung nach einem Roman von Virginia Woolf, kuratiert von Tilda Swinton.

Dauerausstellung

Von Laura Binggeli am 14. März 2022 veröffentlicht.

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